Schatzkiste BiG – Atelier 5 und die moderne Architektur
Der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier (1887-1965) prägte die moderne Architektur weltweit. Seine Formsprache beeinflusste auch das Berner Architekturbüro Atelier 5. Deren Bauten stellten mit ihren klaren Linien, geometrischen Formen und der Verwendung von Beton einen neuen Stil in der Schweiz der 1960er Jahre dar. Fotografien aus dem Fotoarchiv Walter Rutishauser geben Einblick in dieses Schaffen.

Atelier 5 – Geschichte des Architekturbüros
Le Corbusier war mit seiner Architekturform und seinen Überlegungen zum Siedlungsbau leitendes Vorbild für Atelier 5. Das 1955 von fünf jungen Architekten gegründete Architekturbüro entwickelte in Anlehnung an Le Corbusiers Lehren und ihrer Wahrnehmung der Berner Altstadt moderne Projekte im Siedlungsbau. Diese Überbauungen unterschieden sich durch ihre verdichtete Bauart mit Gemeinschaftsbereichen von den in den 1950er und 1960er Jahren üblichen Einfamilienhaussiedlungen mit hohen Landverbrauch oder den anonymen Hochhaus-Quartieren.
Atelier 5 realisierte im In- und Ausland private und öffentliche Bauten, Siedlungsprojekte sowie Umbauten in städtischem und ländlichem Kontext (Portfolio | Atelier 5 - Architekten und Planer AG). Bemerkenswert sind etwa folgende Projekte:
- die Mensa der Universität Stuttgart-Vaihingen: hier wurde vom einzelnen Esstisch ausgehend das ganze Gebäude konzipiert (1976)
- der Erweiterungsbau des Kunstmuseums Bern (1983)
- die Erweiterung der Spar- und Leihkasse Bern (1981/1995)
- der Umbau des Crédit Suisse-Hauptsitzes in Zürich (2011)
- die Siedlung Rotherbaum in Hamburg (1998)
- die Hypovereinsbank in Luxembourg (2000)
- der Prinz-Eugen-Park in München (2020)
Die Zahl der Mitarbeitenden des bis heute bestehenden Architekturbüros variierte den Aufgaben entsprechend. Um 1975 arbeiteten bis zu 75 Personen in verschiedenen Funktionen für Atelier 5. Gearbeitet wurde in Teams, die Projekte wurden unter dem Namen «Atelier 5» ausgewiesen, die einzelnen Architekten und Architektinnen in der Regel nicht einzeln genannt. Bevorzugtes Baumaterial war Beton, wobei der anfangs markante Formenbezug zu Le Corbusier mit der Zeit verblasste. Das Architekturbüro passte sich den Veränderungen der Zeit an (Geschichte | Atelier 5 - Architekten und Planer AG).
Charakteristisch für Projekte von Atelier 5 blieben immer die intensive Auseinandersetzung mit dem geografischen Ort sowie dem Kontext einer künftigen Siedlung. Im Gegensatz zu Le Corbusier suchten die Architekten von Atelier 5 somit nach Lösungen für eine konkrete Umgebung. Schnörkel und formale Gesten lehnten die Architekten von Atelier 5 ab. Ihre Siedlungen waren klar unterteilt in den gemeinsam genutzten Raum und in die geschützte Welt des Privaten.
Anhand der Siedlungen «Flamatt 1», «Halen» und «Thalmatt 1» werden im Folgenden typische Elemente der Architektur von Atelier 5 nachgezeichnet.
Die Fotos stammen vom Pressefotografen Walter Rutishauser, welcher zeitweise in einer Wohnung der Siedlung «Flamatt 1» wohnte und dessen Fotoarchiv sich in der Bibliothek am Guisanplatz befindet. Eine Auswahl seiner Aufnahmen von Atelier 5-Bauten sind über das Rechercheportal Alexandria zugänglich (Walter Rutishauser - Bauten Atelier 5 - Bundesverwaltung).
Flamatt 1
Das Reihenhausobjekt «Flamatt 1» wurde 1957 bis 1958 unter anderem für den Atelier 5-Mitbegründer Rolf Hesterberg an der Neueneggstrasse in Flamatt erstellt. Sechs schmale, reihenhausartige Wohnungen bilden einen Quader aus Sichtbeton. Beton wurde als Material für Wände, Decken, Wohnungstreppen, sogar für Teile der Küchenausstattung und Büchergestelle verwendet. Neuartig war der offene Grundriss im Wohngeschoss; Schiebetüren ermöglichten eine flexible Raumaufteilung der Kinderzimmer. Die Dachgärten, die Gestaltung der Fassaden und die Stützen erinnern an Elemente aus Le Corbusiers Fünf-Punkte-Programm. Zahlreiche Leute waren schockiert angesichts dieses Baus, eines Rohlings, der mit dem 1958 üblichen Haus wenig gemeinsam hatte.

«Halen»
Mit der Siedlung «Halen» in Herrenschwanden in der Nähe von Bern wurden 1955 bis 1961 78 Häuser in einer Waldlichtung mit verdichteter Bauform gebaut. Für viele Leute der damaligen Zeit, als in solcher Lage üblicherweise freistehende Einfamilienhäuser geplant wurden, war ein solches Projekt befremdlich. Der Verkauf ab Reissbrett harzte und nur dank dem Zürcher Unternehmer Ernst Göhner konnte die Siedlung «Halen» gebaut werden. Beton wurde wiederum als Hauptbaustoff verwendet. Besonders hervorzuheben ist die Aufteilung in öffentliche und private Bereiche. Wohnungen und Gärten können von Nachbarn nicht eingesehen werden, die öffentlichen Bereiche dienen als Begegnungsraum. Neuartig war die rechtliche Organisation dieses öffentlichen Raumes mit Schwimmbad, Spielplatz und Garage, indem alle Hausbesitzenden denselben Anteil am Gemeinschaftsraum erwarben.
Die Siedlung «Halen» wurde zum Wallfahrtsort für Architekturstudierende aus der ganzen Welt – und blieb für viele Zeitgenossen ein architektonischer Gräuel. Sie betitelten «Halen» als «Chüngelistall», «Säutrog» oder als «Betonwüste». Im Rückblick stufen Kinder, welche in der Siedlung «Halen» aufgewachsen sind, diesen Wohnort als stark identitätsstiftend ein. Sie erlebten in den öffentlichen Räumen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, immer waren andere Kinder zum Spielen oder Reden da, in der auswärtigen Schule waren sie jedoch die Anderen.

«Thalmatt 1»
Anders als in «Halen» konnten die Wohneinheiten bei der Überbauung «Thalmatt 1» (erbaut 1967-1974) in Herrenschwanden bei Bern nach den eigenen Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten individuell gestaltet werden, was einer heterogenen Gesellschaft Rechnung tragen sollte. Mit grossem Aufwand brachten die Architekten von Atelier 5 die 18 Häuser in eine zusammenhängende Struktur, wobei Beton als Aussenmaterial und gleiche Fenstertypen für ein geschlossenes Erscheinungsbild sorgen. Auch hier bieten gemeinsame Bereiche Gelegenheit für Kontakte, währenddem der private Bereich vor Einblicken geschützt bleibt.

Impressionen aus den Siedlungen
Der Zahn der Zeit
Die in den 1960er Jahren neuartige Bauweise mit Flachdach und viel Beton erwies sich später oft als schadensanfällig. In der Siedlung «Halen» mussten um 2009 mehrfach Betoninstandsetzungsarbeiten ausgeführt, Wasserschäden behoben und Flachdächer saniert werden. Mit einer verstärkten Isolierung von Dächern und Wänden sowie dem Einbau von mehrfach verglasten Fenstern begegnete man dem hohen Heizölverbrauch. Neue Materialien und technische Entwicklungen ermöglichen heute energiefreundlichere Bauweisen, welche Atelier 5 damals noch nicht zur Verfügung standen. «Halen» und «Thalmatt» stehen seit 2003 unter Denkmalschutz.
Literaturempfehlungen BiG und weiterführende Links:
Fotografien von Walter Rutishauser zur Architektur von Atelier 5
Atelier 5
- Literaturliste BiG Atelier 5
- Atelier 5 - Architekten und Planer AG (Firmenwebsite)
- Historisches Lexikon der Schweiz HLS: Atelier 5
- E-Periodica - Die Computerjahre : Atelier 5 wird 50. In: Hochparterre, Sonderheft, 10/2005
- E-Periodica - Atelier 5. In: Werk, Bauen + Wohnen, Heft 7-8, 67/1980
- Berke, Claudia. Kontinuität als Erfolgsmaxime. Das Berner Architekturbüro Atelier 5. (für Bundesangestellte online abrufbar: NZZ, 4. Februar 1994)
- E-Periodica - Die Siedlung Halen bei Bern : 1959-1961 : Architekten : Atelier 5 [...]. In: Das Werk: Architektur und Kunst, Heft 2, 50/1963.
- Wiesmann-Baquero, Nancy. Die Kinder der Siedlung Halen: Lebenserfahrungen mit Architektur und Städtebau. Bern, 2005. (bestellbar in anderen Bibliotheken)
- E-Periodica - Die Siedlung Thalmatt in Herrenschwanden bei Bern : Architekten : Atelier 5.In: Das Werk: Architektur und Kunst, Heft 3, 62/1975
- Schweizer, Jürg. Baustelle Kunstmuseum: Kann ein Projekt schlecht sein, mit dem gleich drei Ziele erreicht werden? (für Bundesangestellte online abrufbar: Der Bund, 2. Dezember 2024)
Architektur, Betonbau
- HLS: Architektur
- HLS: Grundbesitz
- Eugster, David. Beton: Der Stein des Anstosses. (für Bundesangestellte online abrufbar: Bieler Tagblatt, 18. Februar 2022)
- E-Periodica - Unbekannte Schweizer Betonarchitektur. In: NIKE bulletin, Heft 1-2, 27/2012
Le Corbusier
Kontakt Information und Dokumentation
CH - 3003 Bern









