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MitteilungVeröffentlicht am 21. November 2024

Die Jurafrage: 50. Jahrestag einer historischen Abstimmung

Am 23. Juni 1974 führte eine historische Abstimmung zur Gründung des Kantons Jura und markierte damit einen entscheidenden Wendepunkt in der Schweizer Geschichte. Fünfzig Jahre später blickt das Dossier der Bibliothek am Guisanplatz auf die turbulente Geschichte der Jurafrage zurück, einem politischen und kulturellen Konflikt, der die Region bis heute beeinflusst.

Herr Béguelin hält eine Rede

2024 feiert die Schweiz den 50. Jahrestag der Abstimmung vom 23. Juni 1974 über die Schaffung des Kantons Jura, was die Debatten über die regionale Identität und die Zukunft einiger Gemeinden neu entfacht. Die kürzliche Entscheidung Moutiers, den Kanton Bern zu verlassen und sich 2026 dem Kanton Jura anzuschliessen, zeugt davon, dass sich die identitären und territorialen Streitfragen in der Region selbst ein halbes Jahrhundert nach der historischen Abstimmung hartnäckig halten.

Der Jahrestag bietet die Gelegenheit, die turbulente Geschichte der Jurafrage, eines Konflikts, der die Identität der Region zutiefst geprägt hat, noch einmal Revue passieren zu lassen. Zu den symbolträchtigsten Augenblicken des Kampfes um Unabhängigkeit gehört die bis heute unvergessene «Opération Macadam». Während einer Demonstration teerten militante Anhänger der Separatistengruppe «Bélier» auf fast 300 Metern die Tramschienen auf der Spitalgasse in Bern zu und machten damit auf dreiste Weise auf die von der jurassischen Bevölkerung empfundene ungerechte Behandlung durch die Berner Behörden aufmerksam.

Die Bibliothek am Guisanplatz BiG rückt in der Folge die Schlüsselmomente des komplexen Konflikts um Gebietsansprüche und kulturelle Identität, der zur Schaffung des jüngsten Schweizer Kantons geführt hat, in den Fokus.

Ursprünge des Konflikts

Als Jurafrage wird der seit über 150 Jahren zwischen dem Jura und dem Kanton Bern schwelende politische und kulturelle Konflikt bezeichnet. 1815 teilte der Wiener Kongress das Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Basel, inklusive des mehrheitlich frankophonen Jura, dem deutschsprachigen Kanton Bern zu. Diese Entscheidung schuf eine sprachliche und religiöse Minderheit innerhalb des Kantons. Viele Jurassierinnen und Jurassier fühlten sich damals, trotz gleicher Staatsbürgerschaft, von Bern kulturell entfremdet. Spannungen entstanden nicht nur zwischen dem Jura und Bern, sondern auch innerhalb der Region Jura selbst, insbesondere religiöse Spannungen zwischen dem katholischen Norden und dem protestantischen Süden.

Die Angliederung an Bern wurde zuerst zwar akzeptiert, doch im 19. Jahrhundert entstanden – verstärkt durch Germanisierungstendenzen – separatistische Bestrebungen. Nach dem Ersten Weltkrieg stellten Intellektuelle die Idee eines Kantons Jura wieder in den Raum und lösten damit antiseparatistische Reaktionen aus. In der Zwischenkriegszeit kam das Gefühl auf, von Bern vernachlässigt zu werden. Dieses wurde von Vereinigungen wie der Société jurassienne d'émulation und Pro Jura, die eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung der jurassischen Identität spielten, befeuert.

Weg zur Abspaltung

1957 lancierte das Rassemblement jurassien eine Standesinitiative für die Unabhängigkeit des Jura. Diese wurde 1959 abgelehnt. Die Abstimmung offenbarte eine tiefe Spaltung des Jura. Während sich die Bevölkerung in den nördlichen Bezirken für die Unabhängigkeit aussprach, stellte sich der Süden dagegen. In den 1960er-Jahren entstanden radikale Gruppierungen, wie die Front de libération du jurassien (FLJ), die Vandalenakte verübte. 1963 wurde die Jugendorganisation Groupe Bélier zur Unterstützung der separatistischen Bemühungen gegründet. Die antiseparatistische Bewegung organisierte sich ebenfalls und rief ihre eigene Partei und ihre eigene Jugendorganisation, die Groupe Sanglier, ins Leben. Die Berner Regierung suchte angesichts der zunehmenden Spannungen nach Lösungen. 1967 und 1968 wurden offizielle Kommissionen zur Auseinandersetzung mit dem Konflikt einberufen. Ihre Empfehlungen brachten die Berner Regierung dazu, 1970 einen Plan anzunehmen, der vorsah, den Jura über eine Reihe von Abstimmungen selbstbestimmt über seine Zukunft entscheiden zu lassen. Dieser Schritt ermöglichte letztlich die historische Abstimmung im Jahr 1974.

Historische Abstimmung 1974

Am 23. Juni 1974 fand in den sieben jurassischen Bezirken eine historische Abstimmung statt, in der die Stimmbevölkerung über die Zukunft des Jura entschied. Das Resultat fiel äusserst knapp aus: 51,94 Prozent der Stimmberechtigten sprachen sich für die Schaffung eines neuen Kantons aus. Hinter dieser knappen Mehrheit verbarg sich die tiefe Spaltung der Region. Die drei Bezirke im Norden (Delémont, Porrentruy und Franches-Montagnes) stimmten der Unabhängigkeit deutlich zu. In Delémont machten die Ja-Stimmen 79 Prozent aus. Die südlichen Bezirke (Courtelary, Moutier, La Neuveville und Laufen) lehnten eine Trennung von Bern dagegen ab. Trotz dieser starken Abweichungen war die Abstimmung von grosser Bedeutung, denn sie setzte den Prozess der Bildung des Kantons Jura in Gang. Der 23. Juni wurde später zum offiziellen Geburtstag des Kantons. An diesem Tag wird dieses entscheidenden Moments der Schweizer Politikgeschichte gedacht.

Bildung des Kantons Jura

Nach der historischen Abstimmung begann eine neue Phase der Jurafrage: jene der komplexen Umsetzung. Die Differenzen, welche die Abstimmungen deutlich gemacht hatten, führten zu den «Kaskaden-Abstimmungen» 1975, in denen die südlichen Bezirke ihren Wunsch, im Kanton Bern zu verbleiben, bestätigten, wobei sich aber bestimmte Grenzgemeinden dafür aussprachen, zum künftigen Kanton Jura zu gehören.

Der Prozess mündete in die nationale Volksabstimmung 1978, in der die Schaffung des neuen Kantons mit grosser Mehrheit gutgeheissen wurde. Der Kanton Jura wurde am 1. Januar 1979 offiziell gegründet, mit Delémont als Hauptstadt. Damit war die Jurafrage jedoch nicht vollständig geklärt: Zahlreiche Separatisten forderten weiterhin die Vereinigung der südlichen Bezirke mit dem neuen Kanton – eine Debatte, die jahrzehntelang anhalten sollte.

Aktuelle Streitfragen

Nach der offiziellen Schaffung des Kantons Jura 1979 verlagerten sich die Streitfragen und betrafen nun insbesondere den Status der Gemeinden des Berner Jura. Die separatistische Bewegung setzte ihren Kampf für die Wiedervereinigung des ganzen «historischen Jura» fort. Diese Bestrebungen führten zu mehreren bedeutsamen Entwicklungen, wovon der Fall Moutier die namhafteste ist. Nach jahrelangen Diskussionen und mehreren Abstimmungen entschied Moutier 2021 schliesslich, vom Kanton Bern in den Kanton Jura zu wechseln. Dieser für 2026 vorgesehene Wechsel illustriert die Komplexität und die Langwierigkeit der Jurafrage. Auch heute, über vier Jahrzehnte nach der Schaffung des Kantons Jura, ist die Debatte noch nicht zu Ende: Die Fragen um Identität und territoriale Zugehörigkeit bestehen fort.

Literaturempfehlungen der BiG

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